Wie die meisten modernen Produktverantwortlichen habe ich Produktmanagement nie studiert, sondern mir viel durch „Learning by Doing“ angeeignet. Auf der Suche nach neuem Wissen bin ich damals auf das Buch „Inspired“ von Marty Cagan (*) aufmerksam geworden. Oft wird es als „Pflichtlektüre“ in dem Bereich erwähnt. Da mich das Buch im wahrsten Sinne des Wortes „inspired“ hat, will ich es mit euch teilen.
Über den Autor und sein Buch
Ursprünglich startete Marty Cagan in den 1980ern als Software-Entwickler. In seiner beruflichen Karriere sammelte er u.a. bei Hewlett-Packard, Netscape und eBay, wo er zuletzt als Senior Vice President Product & Design verantwortlich war, seine Erfahrung im Produktmanagement. Heute leitet er die Silicon Valley Product Group und vermittelt sein Wissen anderen. Kurzum: Cagan ist jemand, der zweifelsohne Expertise im Produktmanagement von Tech- und insbesondere Software-Produkten besitzt.
In der ersten Fassung des Buches adressierte er speziell Produktmanagement in Tech-Startups. In der aktuellen Fassung hat er die Zielgruppe erweitert und geht auch die Unterschiede zwischen etablierten Startups und Produktteams in größeren Organisationen ein. Cagan betrachtet das Thema aus unterschiedlichen Sichtweisen wie z.B. Prozesse, Organisation, Produktstrategie und Unternehmenskultur. In den Kapiteln beschreibt er nicht nur übergeordnete Prinzipien für ein erfolgreiches Produktmanagement, sondern er zeigt auch direkt umsetzbare Handlungsempfehlungen auf und liefert Messgrößen zu Beurteilung der eigenen Organisation.
Auf ca. 360 Seiten, die sowohl in Deutsch als auch Englisch erhältlich sind, bekommt ihr ein sehr umfassendes Praxisbuch für jeden, der bereits erste Erfahrung im Produktmanagement besitzt und ein modernes Produktmanagement leben oder etablieren will.
Über den Inhalt
In fünf Teilen mit insgesamt 67 Kapiteln, die teilweise nur wenige Seiten kurz sind, macht Cagan einen Rundumschlag zum Thema Produktmanagement. Die Kapitel sind immer ähnlich gegliedert: zuerst geht er auf der Meta-Ebene allgemein auf Prinzipien eines exzellenten Produktmanagements ein. Danach widmet er sich konkreten Methoden und Werkzeugen, um dies umzusetzen. Jedes Kapitel wird mit einem Best-Practice erfolgreicher Produktmanager aus Cagans Netzwerk abgerundet.
Im ersten Teil teilt Cagan seine beruflichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. U.a. beschreibt er, warum das klassische Wasserfall-Modell zu nicht-realisierbaren Features und Innovationslosigkeit führt und wie sich Produktmanagement im Startup von dem in großen Unternehmen unterscheidet. Auch nennt er Schlüsselkonzepte moderner Produktorganisationen, wie z.B. kontinuierliche Innovation, Validieren neuer Features und eine starke Produktvision.
Der zweite Teil widmet sich dem Personal. Er zählt sowohl die notwendigen Rollen in einem Produktteam auf, als auch deren Anforderungsprofile. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf die Kernrollen Produktmanager, Entwickler, Designern, sondern betrachtet ebenso die unterstützenden Bereiche wie Marketing und Management. Wichtig ist ihm hier, dass in einem Produktteam keine der Rollen führend ist — weder Product Owner, noch Designer, noch Tech-Lead. Auch stehen Design und Funktion auf einem gleichwertigen Level. Interessant für Führungskräfte ist in diesem Kapitel, wie sich eine fehlende Teamrolle auf das Produkt auswirkt, was starke von schwachen Produktmanagern unterscheidet und wie man autonome Produktteams etabliert.
Um das Produkt selbst geht es im anschließenden dritten Teil. Hier vertieft Calagan, warum klassische Roadmaps mit z.B. starren Jahresplänen in der heutigen Zeit nicht mehr funktionieren und wie eine Produktvision zusammen mit einer -strategie diese ersetzen. Natürlich stellt er auch dar, was eine gute Produktvision und -strategie kennzeichnen, wie man sie erstellt und wie ein Produktmanager sie in der Außendarstellung kommunizieren kann. Als kleinen Exkurs befasst er sich zusätzlich mit dem Einsatz der Objective-Key-Results (OKR)-Methode in Produkt-Teams.
Der vierte Teil befasst sich mit dem Produktentstehungsprozess. Cagan unterscheidet zwischen Discovery-Prozessen, die der Entdeckung, Priorisierung und Validierung von Features dient, und Delivery-Prozessen, welche die Softwareentwicklung umfasst. Diese Aufteilung ist nicht neu und sicher dem einen oder anderen auch unter anderen Begriffen schon bekannt. Für die Discovery beschreibt er unterschiedliche Werkzeuge, wie sich der Mehrwert von Features validieren lässt und wie man Prototypen richtig einsetzt, um weiteres Marktfeedback zu erhalten. Auch Randbereiche wie Usability-Testing oder das -Management finden hier Platz.
Im fünften Teil geht es abschließend um die notwendige Kultur. Statt langer abstrakter Texte nutzt Cagan einen direkten Vergleich von guten und schlechten Produktteams, um die ideale Produktkultur zu beschreiben. Auch befasst er sich damit, wie mit der Zeit und Unternehmensgröße entstehende Schwächen wie Innovations- und Geschwindigkeitsverlust wieder korrigiert werden können und man eine exzellente Produktkultur etabliert.
Meine Top-3-Lessons Learned
Es gibt nur wenige Bücher, aus denen ich so viele Erkenntnisse für meinen beruflichen Alltag mitgenommen habe, wie dieses. Dennoch beschränke ich mich auf meine Top-3-Kernerkenntnisse:
1.Produkt-Roadmaps funktionieren nicht: Roadmaps sind eine Auflistung von auf einem Zeitstrahl verteilten Features, die eine falsche Verbindlichkeit kommunizieren. Unklare Anforderungen, hinzukommende Features und technische Herausforderungen führen in Software-Produkten regelmäßig dazu, dass Deadlines nicht gehalten werden können. Das schafft Unzufriedenheit auf allen Seiten. Die falsche Verbindlichkeit führt außerdem dazu, dass Roadmaps stur abgearbeitet werden obwohl man erkannt hat, dass ein Feature doch nicht den erwarteten Nutzen hat. Besser ist eine klare Produktvision als “Leuchtturm”, wofür das Produkt steht. Diese wird ergänzt durch eine rollierend aktualisierte Produktstrategie, die die Prioritäten (und damit Reihenfolge) definiert, ähnlich dem Product Backlog. So lässt sich der höchstmögliche Kundennutzen erzielen, Flexibilität beibehalten und Transparenz für alle Stakeholder herstellen.
2. Gute Produktkulturen denken vor und lernen stetig: Es ist nicht überraschend, dass erfolgreiche Teams viel mit ihren Kunden im Austausch sind. Es geht dabei nicht darum, willenlos jedes Feature des Kunden umzusetzen. Sondern eher, die dahinterliegenden Bedürfnisse (“Warum?”) zu verstehen und dem Kunden dann noch bessere Lösungen zu liefern. Nur so lassen sich wahre Innovationen hervorbringen. Und nur so lassen sich Kundenbedürfnisse in Einklang mit Produktvision, Geschäftsmodell und technologischen Möglichkeiten bringen. Dies lässt sich am besten erreichen, wenn jeder im Produktteam — auch ein Entwickler — regelmäßig Kundeninterviews führt und Features vor der Entwicklung mit Kunden evaluiert werden.
3.Erfolgreiche Produktteams folgen einem Muster: Cagan liefert viele praktische Messgrößen, an denen man sich orientieren und seine Organisation bewerten kann. Ein guter Produktmanager kennt sowohl seine Nutzer, als auch sein Produkt. Es ist daher wenig verwunderlich, dass er die Hälfte seiner Zeit beim Kunden als auch mit dem Entwicklungsteam verbringt. Zusätzlich bedarf es 2–3 Stunden pro Woche für Stakeholder-Management. Ein gutes Produktteam besteht dabei immer aus einem Product Owner, ggf. einem Designer und maximal 2–10 Entwickler. Am Produkt erkennt man, an welcher Rolle es mangelt: Wenn das Produkt heterogen aussieht, fehlt ein Designer. Wenn man die Entwickler fragen muss, wie ein Feature funktioniert und warum es im System ist, fehlt ein Produktmanager. Und wenn es technische Schulden und lange Entwicklungszyklen gibt, fehlt es an Führung der Entwickler.
Fazit
Persönlich fand ich das Buch sehr inspirierend. Es hat mir gezeigt, in welchen Punkten ich bereits richtig handle oder ich richtige Hypothesen habe und wo ich mich und das Team noch verbessern kann. Gleichzeitig hat es mir konkrete Messgröße und Maßnahmen gegeben, um direkt damit loszulegen und mir erklärt, welche Prinzipien diesen Ansätzen zu Grunde liegen. Wer bereits Erfahrung im modernen, agilen Produktmanagement hat, wird viele Methoden wiedererkennen — hier hat Cagan das Rad nicht neu erfunden, sondern eher komprimiert für Produktverantwortliche zusammengefasst. Besonders gefallen hat mir der Rundumschlag, d.h. nicht nur der Fokus auf Produkt und Prozesse, sondern auch auf die Kultur und das Team. Einzig das Kapitel 4 (Prozesse) fand ich etwas langwierig und trocken — vermutlich aber deshalb, weil es eine Aufzählung von mir bereits bekannten Methoden ist.
Insgesamt ist das Buch eine Empfehlung für all diejenigen, die bereits erste Erfahrung im Produktmanagement haben und sich weiterentwickeln wollen, und diejenigen, die z.B. in der Rolle einer Führungskraft mit dem Auf- oder Ausbau eines Produkt-Teams befassen. Für Neulinge und Product Owner ist das Buch nicht verkehrt, hier empfehle ich aber zuerst eher Basisliteratur wie z.B. “Agiles Produktmanagement mit Scrum” von Roman Pichler, da es thematisch fokussierter ist.